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Weshalb wir uns vor dem Telefonieren fürchten

Veröffentlicht am 28.11.2017

Telefonieren ist anstrengend, und es läutet meistens im unpassendsten Moment. Deshalb tun wir es auch immer seltener. Was entgeht uns dabei? Ein paar Anrufe, die das klären sollen.

Spannender Artikel in der NZZ von Katrin Schregenberger24.11.2017, 05:30 Uhr

 

Wenn früher das Telefon klingelte, glaubte ich an Telepathie. «Ich wollte auch gerade anrufen», sagte ich dann. Das Kabel um den Finger gewickelt, lachte ich mich krumm über die Witze meiner Schulfreundinnen. Die Muschel ans Ohr gepresst, hatte ich Angst, meine erste Liebe könnte meinen Herzschlag hören. Ich umklammerte den Hörer, als es aus war.

Die Telefone bleiben heute still. Wir tun es immer weniger, schreiben stattdessen lieber zehn E-Mails oder zwanzig Textnachrichten hin und her. «Messaging ersetzt Sprache»: Zu diesem Schluss kommen Studien, das zeigen die Zahlen. Fast jeder dritte Jugendliche telefoniert in der Schweiz selten oder nie, fast 100 Prozent hingegen nutzten Chats regelmässig oder täglich. Dies zeigt die James-Studie von 2016, welche die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) mit 1100 Schülern durchgeführt hat. Daran ändert auch die Internet-Telefonie wie Skype oder Facetime nichts. Telefonieren ist bald nur noch etwas für kommunikative Extremsportler.

Um die alte Tätigkeit noch einmal aufleben zu lassen, mache ich einen Versuch: Ich will wissen, woher die Telefonscheu kommt und was einem dadurch entgeht. Zuerst wähle ich die Nummer des Kommunikationswissenschafters Walter Sendlmeier von der Technischen Universität Berlin. Es klingelt dreimal in der Leitung, dann meldet sich eine energische Stimme. Die Stimme redet schnell mit breitem deutschem Akzent. Ich stelle mir vor, dass sie einem blonden Mann gehört.

«Herr Sendlmeier, könnte ich Ihnen meine Fragen auch in einer Kurznachricht schicken, statt Sie anzurufen?»

«Auf keinen Fall. Erst die Stimme verschafft den Zugang zur Seele des anderen. Emojis zum Beispiel sind armselige Ersatzversuche, die zeigen, dass die textliche Ebene unzulänglich ist.»

«Was verraten wir denn mit unserer Stimme?»

«Die Stimme vermittelt alles, was die Identität eines Menschen ausmacht. Und auch seine Gemütslage. Und zwar auf untrügliche Weise: Sich beim Sprechen zu verstellen, ist schwierig. Wenn jemand zum Beispiel Angst hat, verändert sich nicht nur sein Sprachrhythmus und seine Intonation, sondern auch der Atemrhythmus. Dann wird der Mund trocken: Das tönt anders.»

«Wie wirkt Telefonieren auf uns?»

«Auf hormoneller Ebene wirkt die Stimme viel stärker als ein Text. Das zeigen Studien: Gegen Stress half in einem Testversuch mit Kindern ein Telefonanruf gleich viel wie eine Umarmung. Trost per Whatsapp hingegen brachte kaum etwas.»

Angst vor der Stille

Die «ferne Stimme», was «Telefon» aus dem Altgriechischen übersetzt heisst, entblösst also unsere Seele. Das ist es, wovor wir uns fürchten: nackt zu sein im Ohr des anderen. Als Teenager sass ich manchmal minutenlang vor dem Telefon, bevor ich mich traute, eine fremde Person anzurufen. Ich stellte mir vor, wie das Gespräch laufen würde, übte, was ich sagen wollte. Auch heute noch greife ich nicht völlig stressfrei zum Hörer, gehe das Telefonat gedanklich vorher durch.

Ich wähle die Nummer von Michael Rufer, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich. Es klingelt. Die ersten drei Sekunden des Gesprächs kommen nicht bei mir an, dann höre ich die ruhige Stimme des Professors, stelle mir vor, wie er in weissem Kittel an einem hölzernen Schreibtisch sitzt, den Telefonhörer dicht am Ohr.

«Herr Rufer, wieso fürchten wir uns vor dem Telefonieren?»

«Wir haben Angst, ein Blackout zu haben.»

Telefonieren scheint einem Hochseilakt gleichzukommen. Man könnte ein peinliches Missverständnis produzieren, ohne dass man es abfangen kann.

«Wird die Angst kleiner, wenn wir viel telefonieren?»

«Ja, denn dann merkt man, dass die befürchtete Katastrophe nicht eintritt. Die Erwartungsangst vor dem nächsten Telefonat wird geringer. Manche Menschen aber verlieren diese Angst nie, obwohl sie – zumindest ab und zu – telefonieren.»

«Was kann man dann tun?»

«Man sollte nicht <irgendwie> telefonieren, sondern sich ganz bewusst auf das Telefonat einlassen und die Angst zulassen, statt sich davon abzulenken: gedanklich im Hier und Jetzt bleiben, statt schon daran denken, was in fünf Minuten sein könnte.»

Telefonieren scheint einem Hochseilakt gleichzukommen. Man könnte ja peinliche Missverständnisse produzieren oder jemanden brüskieren, ohne dass man es abfangen kann. Er klingt so barsch, sie fällt ihm ins Wort. Es sind diese Situationen, die wir weglächeln würden, sässen wir jemandem gegenüber und schauten in sein Gesicht. Beim Telefonieren aber entfallen alle nonverbalen Signale, die man deuten und auf die man gleichzeitig entsprechend reagieren würde. Das verunsichert und macht hilflos.

Das Surren der Drehscheibe

Doch mit dem Ende des Telefonierens geht auch etwas verloren. Nähe zum Beispiel – auch wenn die Person am andern Ende der Leitung 500 Kilometer entfernt ist. Es schafft noch immer Verbundenheit, wenn ich mit einer Freundin fast eine Stunde am Kabel hänge. Dann ist da die Magie des guten alten Telefonapparats: die Drehscheibe, in deren Löcher meine Finger perfekt passen, wie sie surrt bei jeder der zehn Zahlen, die ich wähle. Heute, wo alle Nummern abgespeichert sind, kenne ich keine Telefonnummern mehr auswendig. Als Jugendliche war es Ehrensache, die Nummern der Freunde frei aufsagen zu können. Und während wir uns das Ohr heiss redeten, entstanden auf dem Block neben dem Telefon Phantasiemuster aus Buchstaben, Kringeln, Zahlen – der optische Ausdruck eines Gesprächs. Dabei imaginierten wir das Bild des anderen, hörten die Worte fallen und sinken, konzentrierten uns ganz auf die Stimme, nahmen Zwischentöne wahr, je besser wir einander kannten.

Heute lässt sich diese Auseinandersetzung vermeiden. Das zeigt ein neuer Trend: Sprachnachrichten, wie wir sie uns täglich hin- und herschicken. Man spricht seinen Text ins Mikrofon, wobei er aufgezeichnet wird, und sendet ihn über einen Messenger-Dienst wie Whatsapp dem Adressaten. Im Gegensatz zum klassischen Telefonanruf ist dieser Kommunikationsweg zwar weniger flüchtig, denn die Nachricht lässt sich archivieren wie früher der Anruf auf der Kassette des Telefonbeantworters. Aber die Kommunikation ist auch weniger unmittelbar.

Als Jugendliche war es Ehrensache, die Nummern der Freunde frei aufsagen zu können.

Wieder greife ich zum Hörer – einer fremden Person wage ich nicht, Sprachnachrichten zu schicken, dafür ist die Technologie wohl doch noch zu neu. Katharina König ist Doktorin der Sprachwissenschaften an der Universität Münster und hat in einem Projekt 160 Sprachnachrichten untersucht. Sie meldet sich mit sanfter Stimme. Diese passt zu ihrem jungen Gesicht, das ich im Internet gesehen habe.

«Frau König, wieso boomen Sprachnachrichten?»

«Die Sprachnachricht ist zeitlich nicht gebunden, sie überlässt dem Gegenüber, wann es antworten will.»

«Sind Sprachnachrichten weniger verbindlich?»

«Nicht unbedingt. In Sprachnachrichten kommen sehr wohl auch ernste Themen vor. Der Unterschied ist aber, dass ich nicht unterbrochen werde, ich kann Themen ungestört erläutern. Mit der Sprachnachricht kommt also der Monolog zurück in die Kommunikation.»

«Wieso wollen wir nicht unterbrochen werden?»

«Dadurch schützt sich der Sprechende manchmal vor Kritik.»

Ich hänge auf.

Es scheint, dass Angst die Kommunikationstechnologie vorantreibt. Die Angst vor dem Telefonieren.

Rumänen telefonieren doppelt so viel wie Schweizer

 

ks. Schweizerinnen und Schweizer telefonieren pro Monat durchschnittlich während fast zweier Stunden mit ihrem Mobiltelefon, womit unser Land im Vergleich mit den EU-Staaten im untersten Viertel liegt. Zu diesem Schluss kam eine Studie des Bundesamtes für Kommunikation bereits 2014. Die Rumänen – Spitzenreiter der EU – telefonierten fast doppelt so viel. Am wenigsten telefonieren die Deutschen: nur 87,5 Minuten im Monat. Bei den Deutschen ist der Verfall der Telefonie besonders augenfällig, wie der Beratungskonzern Deloitte herausfand. Von 2013 bis 2016 reduzierte sich die Zahl der Nutzer bei der Sprachtelefonie um 30 Prozent: Nur noch die Hälfte der Deutschen telefonierte 2016 regelmässig. Auch die Internettelefonie macht den Einbruch beim Mobiltelefon nicht wett. Dafür legten Messaging-Dienste innerhalb von drei Jahren um über das Doppelte zu: 66 Prozent der Deutschen nutzten 2016 Dienste wie Whatsapp regelmässig. Dieser Vormarsch ist aber nicht überall gleich stark: Während in Korea und China Messaging die Kommunikation quasi übernimmt, greifen die Franzosen immer noch viel häufiger zum Telefon – viel häufiger als zum Beispiel auch die Schweizer.

Der Artikel erschien am 24.11.2017 in der www.nzz.ch